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Bevölkerungsstruktur

Wenn heute von der „guten alten Zeit“ auf dem Dorf die Rede ist, dann hat man die Verhältnisse von vor 75 oder 100 oder, wenn es hochkommt, von vor 150 Jahren vor Augen. Die „gute alte Zeit“, die dabei beschrieben wird, war tatsächlich aber schon eine ziemlich moderne Zeit, in der die Bauern privatwirtschaftlich und in eigener Verantwortung ihre Betriebe bewirtschafteten und in der sie das uneingeschränkte Eigentum an ihren Höfen besaßen.

 

Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts herrschten ganz andere Zustände auf dem Land. Unterschiedliche Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Bauern und Herrschaft und zwischen den Bauern untereinander schlossen eine selbständig Betriebsführung aus.

 

Glücklicherweise haben sich für unser Dorf wichtige Dokumente erhalten, die einen Blick in diese Zeit ermöglichen, eine Zeit, die für die meisten heute Lebenden exotisch und fremd sein dürfte. Zentrale Quellen für diesen Rückblick sind der „Bevölkerungs Etat der Commune Waßerleben vom Jahre 1809“1) und der „Extract aus dem Feldregister von dem Dorfe Wasserleben“2).

zum Bevölkerungsetat 1809

 

Der Bevölkerungs Etat gibt in der vorletzten Rubrik „Profeßion, Gewerbe, oder sonstige Erwerbsmittel“ u.a. den Stand des entsprechenden Hausvaters an: Ackermann, Halbspänner, Ackerbauer. Im Extract wird genauer differenziert, hier ist von Ackermann, Halbspänner, Kärrner, Kossath, Anbauer die Rede. Hinter diesen Bezeichnungen verbirgt sich die ganze Komplexität der damaligen bäuerlichen Gesellschaft, die nun erklärt werden soll. 

 

Bevölkerung von Dorf und Amt 1809

   

Im Dorf und auf dem Amt Bevölkerung - Dorf u. Amt 1809wohnten 1809 1.076 Personen, 537 männliche und 539 weiblichea)

Die Zählung nennt zudem die Zahl der Bewohner des Gutes Schmatzfeld: insgesamt 68 Menschen, 42 Männer und 26 Frauen.

 

Alle in Wasserleben und Schmatzfeld ansässigen Personen waren evangelisch. Sie bildeten die evangelische Kirchengemeinde Wasserleben mit ihrem Zentrum, der Kirche Sankt Sylvestri.

 

Die Bevölkerung Wasserlebens setzte sich zusammen aus den 

Einwohnern des Dorfes und ihren Familien, die einen eigenen Hof besaßen und dafür Abgaben zahlen und Dienste leisten mussten, und aus den

Bewohnern im Dorf und auf dem Amt und ihren Familien, die keinen eigenen Hof besaßen und demzufolge auch keine hofbezogenen Abgaben zahlen und Dienste leisten mussten.

 

Die Begriffe Einwohner und Bewohner bezogen sich immer nur auf das Familienoberhaupt, also in der Regel auf den Hausvater. Die Aufzählung: „drei Einwohner und zwei Bewohner“ bedeutete also „fünf Einwohnerfamilien und zwei Bewohnerfamilien“.


a) Bitte beachten: in die Aufstellung haben sich einige Fehler eingeschlichen: bei vier Positionen (932, 933 934 und 941) sind keine Personen hinterlegt und vier weitere Positionen (942, 943, 944 und 945) wurden doppelt vergeben.

Bei den Frauen ist die 198. Position doppelt besetzt und die 537. fehlt. Bei den Männern fehlen die Positionen 230 und 290, doppelt vergeben ist 278.

 

 

 

Einwohner des Dorfes 1809

 

823 Personen gehörten zu den Familien der Einwohner.Einwohner - Dorf 1809

 

Kennzeichnend für diese Familien waren

der Besitz eines eigenen Hofes, auf dem Landwirtschaft betrieben und/oder ein Handwerk ausgeübt wurde,

das Recht und die Pflicht zur Mitarbeit in der Gemeinde und

die Teilnahme an der nachbarlichen Gerechtigkeit.

 

Dabei war der „eigene Hof“ kein Eigentum im heutigen Sinne, sondern stand im Obereigentum des Grafen von Stolberg-Wernigerode, der ihn zur Nutzung an den Bauern ausgab. Dieser konnten seinen Hof nur mit gräflicher Erlaubnis, dem Consens, vererben, verkaufen oder beleihen.

 

Für die Überlassung hatte der Graf Anspruch auf bestimmte Abgaben und Dienste. Blieben diese aus, war die gräfliche Kammer prinzipiell berechtigt, den Hof entschädigungslos einzuziehen und neu zu vergeben.

 

Die größte Gruppe der Einwohnerfamilien stellte die der dienstpflichtigen Bauern, insgesamt 719 Personen.

 

Zum Spanndienst waren verpflichtet:

die Vollspänner, der Bevölkerungs Etat nennt sie Ackermänner, die mit einem Gespann von vier Pferden Spanndienste auf dem Amt Schmatzfeld verrichten mussten,

die Halbspänner, die entsprechende Spanndienste mit einem halben Gespann von zwei Pferden zu leisten hatten und

die Kärrner, die mit einem Pferd dienstpflichtig waren.

 

Die Kothsassen, im 19. Jh. auch Kossaten genannt, wurden zu Handdiensten auf dem Amt Schmatzfeld, herangezogen. Typische Handdienste waren Mähen, Binden, Bansen, Dreschen und Ladearbeiten.

 

Viele Kothsassen übten neben oder statt der Landwirtschaft ein Handwerk oder ein Gewerbe aus. Andere waren auf den Erwerb als Tagelöhner angewiesen.

 

Die Anbauern führten einen kleinen eigenständigen Landwirtschaftsbetrieb, wobei ihr Hof nicht dienstpflichtig war. Dafür profitierten sie nur in geringem Umfang von der nachbarlichen Gerechtigkeit und nahmen an der Mitarbeit in der Gemeinde nicht aktiv teil.

 

Auch manche Häußlinge gehörten zu den Einwohnern. Typisch dafür waren die Altenteiler, also Eltern des Hoferben bzw. der Hoferbin, mit bestimmten Wohnrechten auf ihrem ehemaligen Besitz. Sie betrieben häufig eine eigene kleine Landwirtschaft oder hatten ihren Acker verpachtet. In die nachbarliche Gerechtigkeit waren sie weiterhin eingebunden. Einige dieser Häußlinge nahmen auch noch Aufgaben in der Gemeinde wahr.

 

Da sie nicht selten ihre alte Standesbezeichnung weiterführten, konnte es beispielsweise vorkommen, dass auf einem Kärrnerhof zwei Kärrner saßen, der Hofbetreiber und sein Vater, der aber eigentlich schon ein Häußling war.

 

Aufgrund dieser Überschneidung und weil die Benennungen nicht konsequent durchgehalten wurden, kann nicht gesagt werden, wie viele Einwohner damals als Häußlinge in Wasserleben lebten. Im Bevölkerungsetat verbergen sie sich unter den Familienangehörigen auf den jeweiligen Höfen.

 

Ähnliches gilt für das Gesinde. Knechte und Mägde gehörten zur Familie des jeweiligen Hausvaters und werden im Bevölkerungsetat daher immer unter den Familienangehörigen aufgeführt.

 

Das Gesinde bestand aus den nicht erbberechtigten Geschwistern des Hoferben oder der Hoferbin, sofern sie weiterhin auf dem elterlichen Hof blieben, aus unterstützungsbedürftigen Familienangehörigen oder aus familienfremden Personen.

 

Wer genau wissen möchte, wo die Einwohner damals wohnten, der bediene sich der Karte „Wasserleben im frühen 19. Jahrhundert". 

zur Karte

 

Bewohner von Dorf und Amt 1809

 

Bewohner - Dorf u. Amt 1809

 

 

 

 

Beiwohner, mit 128 Personen die größte Gruppe unter den Bewohnern, würde man heute als Mieter bezeichnen. Sie hatten 1809 34 Höfe ganz oder teilweise angemietet. Der ursprünglich zum Hof gehörende Acker war verpachtet und wurde von anderen Höfen aus bewirtschaftet.

 

 

 

 

 

 

Allein auf 27 Kothsassenhöfen, also auf jedem vierten, waren Beiwohner ansässig.

 

Beiwohner - Haushalt u. wohnung

 

Dabei ging es hin und wieder eng zu, auf dem Hof Nr. 23 mussten sich vier Familienangehörige des Vermieters und 13 Familienangehörige der Mieter den Platz teilen. Auch auf dem Hof Nr 131, hier war das ganze Wohnhaus vermietet, herrschte bei zwölf Personen sicherlich Gedränge.

 

Diesen stark belegten Objekten, zu denen auch die Höfe Nr. 40, Nr. 92, Nr. 103, Nr. 132, Nr. 150 und Nr. 172, die 2. Schule, gehörten, standen andere gegenüber, die nur mit zwei oder drei Beiwohnern belegt waren.

 

Ihren Unterhalt verdienten sie vor allem als Tagelöhner oder Gewerbetreibende. Sechs Beiwohner werden als Handwerker bezeichnet, als Spinnerin immerhin 13 Frauen. Spinnen war in dieser Zeit die übliche Erwerbstätigkeit für alleinstehende ledige oder verwitwete Frauen oder für Ehefrauen, deren Männer auswärts arbeiteten. Andere Frauen, deren Männer ebenfalls auswärts arbeiteten, tauchen in der Tabelle mit der Standesbezeichnung „Ehefrau“ auf.

 

Wie schon bei den Einwohnern wird die Bezeichnung Häußling auch bei den Bewohnern speziell für Altenteiler verwendet, die auf dem fremden Hof des Schwiegersohns oder der Schwiegertochter einen eigenen Bereich bewohnten oder für Altenteiler auf einem Beiwohner-Hof. Hinzu kommen Handwerker und Tagelöhner, die auf einem fremden Hof ein Zimmer angemietet hatten.

 

Da die Altenteiler zu den Familienangehörigen des Hofbesitzers gehören, und der Bevölkerungsetat Handwerker- und Tagelöhnerhäußlinge ebenfalls unter der Hofbesitzerfamilie aufführt, ist eine Aussage über die Anzahl der Häußlinge nicht möglich.

 

Am Rande: der Bevölkerungsetat weist für Wasserleben keine alleinstehenden Armen aus. Als arm galten in der damaligen Zeit nur solche Personen, die nicht in der Lage waren, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, und für die in ihrem Wohnort keine Verwandten aufkommen konnten.

In den Gemeinderechnungen trifft man hin und wieder auf diese klassischen Armen. Sie fielen der Armenkasse des Dorfes zur Last und wurden, wenn sie nicht in Wasserleben zur Welt gekommen waren, schnellstmöglich in ihren Geburtsort abgeschoben.

 

Die Familien von Pastor, Kantor und zweitem Lehrer führen die Gruppe der sonstigen Personen an. Ihre Stellen waren mit Acker und Wiesen ausgestattet, die in der Regel verpachtet waren. Sie betrieben keine eigene Landwirtschaft und nahmen auch an der Arbeit in der Gemeinde nicht teil.

 

Pfarrer u.a., Haushalt u. Betrieb

 

Eigentlich gehören in diese Rubrik auch die Bewohnerinnen des Predigerwitwenhauses Nr. 169. Das Haus war 1809 allerdings an eine Beiwohnerfamilie vermietet.

 

Zu den sonstigen Personen zählen zudem die gräflichen Müller und ihre Familien, deren Hofstellen Nr. 67 und 99b (später 179) nicht in die nachbarliche Gerechtigkeit eingebunden waren, und die Bewohner der gemeindeeigenen Schafmeisterei (Hof Nr. 39).

 

Müller u.a., Haushalt u. Betrieb

 

 

Nicht einzuordnen sind die drei Höfe ohne Acker, Nr. 91, Nr. 100 und Nr. 153, sowie der Hof Nr. 84, der als Art Häußlingshof mit dem Halbspännerhof Nr. 1 zusammenhing.

 

sonst., Haushalt u. Betrieb

 

Der Hof Nr. 87 fehlt 1822 völlig, eventuell waren die Gebäude damals gerade abgerissen, und ein Neubau noch nicht begonnen worden.

 

Pastor, Kantor und zweiter Lehrer wohnten im Dorf, versahen ihren jeweiligen Dienst aber auch für die Bewohner des Amtes.

 

 

Und hier, auf dem Amt, lebten 1809 64 Personen.

 

An der Spitze stand der Amtmann als Pächter des Gutes. Er führte zwar den größten Landwirtschaftsbetrieb Wasserlebens, hatten ihn aber nur für jeweils zwölf Jahre gepachtet. Irgendwelche Eigentums- oder Besitzrechte konnten daraus nicht abgeleitet werden.

Neben der Familie des Amtmannes wohnten die Familien der weiteren Leitungskräfte, also des Verwalters und des Hofmeiers, und die des Braumeisters und der Amtshirten auf dem Gut.

 

Die Arbeiter, die Tagelöhner und das Gesinde kamen aus dem Dorf oder aus den umliegenden Orten.

Nur einige Arbeiter lebten mit ihren Familien auf dem Amt. Die Tagelöhner sowie die Knechte und Mägde blieben allein.

 

Der Unterschied zwischen Tagelöhnern und Gesinde bestand übrigens nicht in der Tätigkeit, die sie ausübten, sondern in der vertraglichen Bindung an den Arbeitgeber. Tagelöhner wurden bei Bedarf angefordert, Knechte und Mägde hatten in der Regel einjährige Arbeitsverträge von Martini bis Martini (11.11.) und zogen von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle.

 

 

Bemerkenswert immerhin: aus der Bevölkerungsgruppe der Bewohner stammten nicht nur die Tagelöhner und das Gesinde, sondern auch die Honoratioren des Ortes: der Amtmann, der Pastor, der Kantor und der Lehrer.  

 

 

 

H.-G. Krasberg 2020


Qellen

1) Landesarchiv Sachsen-Anhalt, MD, H 9-2, 60, Fach 8, Nr. 5, Bevölkerungsetat 1809

2) Extrakt aus dem Feldregister von dem Dorfe Wasserleben, unveröffentlicht, 1822